Das haben Zuggäste so noch nie erlebt: Mit großen Augen und einem Lächeln auf den Lippen verfolgten sie am Mittwochnachmittag die Auftritte von 50 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus aller Welt – im letzten Waggon der EVB-Linie auf der Strecke Cuxhaven-Bremerhaven verging die Zeit wie im Fluge. Hintergrund ist das Theaterprojekt „NASSES LAND – Kulturelle Wege durch die Landschaft“ der Gruppe „Das letzte Kleinod“, das vom 18. bis 27. März rund um fünf Museen der Region stattgefunden hat.
Mit gelben Handschuhen ausgestattet „schwammen“ Jugendliche als Meeresbewohner durchs Zugabteil, andere kamen in bunten Overalls und spielten Szenen zu Begriffen wie „Dampfschiff“, „Nieten“, „Schleuse“ und „Fischen“. Wieder andere sangen plattdeutsche Lieder, stellten den Freiheitsdrang der Wurster Küstenbewohner nach oder tanzten ausdrucksstark. Das Besondere: 39 der 50 Teilnehmenden zwischen 6 und 20 Jahren sind über den Jugendmigrationsdienst (JMD) des Paritätischen Cuxhaven zum Projekt gestoßen, stammen aus der Ukraine, Russland, Pakistan, Kolumbien, Syrien und Somalia; manche konnten nur ein paar Sätze deutsch. Die Verständigung mit ihren deutschen Altersgenoss*innen, den zehn Teamer*innen des „Letzten Kleinods“ und Projektleiterin Juliane Lenssen klappte dennoch – die Beteiligten lernten voneinander. „Es ist das passiert, was wir uns gewünscht haben: Jugendliche mit unterschiedlichstem Hintergrund sind in die Landschaft und Geschichte der Region eingetaucht und haben dabei viel von sich selbst hineingegeben“, freut sich Juliane Lenssen. „Die Jugendlichen haben sich gut in den Gruppen zusammengefunden, sind selbstständiger geworden und wir konnten ihre Talente entdecken“, ergänzt Vera Nickels vom JMD.
Bereits auf den Bahnhöfen in Bremerhaven und Cuxhaven hatten Kleingruppen am Mittwoch unter Beifall von Passanten vor den Abfahrten der Züge um 15.36 Uhr und 15.39 Uhr Performances aufgeführt, wiederholten das Programm während der Fahrt und wechselten am Bahnhof Dorum in den entgegenkommenden Zug. In Nordholz stiegen kostümierte Teilnehmer*innen ein und präsentierten einen humorvollen, selbst produzierten professionellen Schwarz-Weiß-Film rund ums Thema „Fliegen“, in dem sie selbst sowohl alle Rollen ausfüllten als auch am Kameraschnitt beteiligt waren. Musikalisch und historisch-wortgewandt zeigten sich die in Wremen Zugestiegenen zur Akkordeon- und Gitarrenbegleitung von Jan-Hendrik Ehlers und Gerd Blancke. Dabei blieben vor allem der Auftritt der erst zehnjährigen Eneli Ohlrogge als kämpferische Anführerin und die plattdeutschen Lieder in Erinnerung. Mit ihrer Ballett-Einlage sorgte Frida Breuer aus Beverstedt für Applaus – die 13-Jährige und Tänzerinnen anderer Nationen erzeugten ein eindrucksvolles Spannungsfeld. Ein kurzes Hörspiel über die Eigenheiten der Küstenbewohner Möwe, Steinbutt, Wattwurm und Monsterkrabbe rundete das Programm ab.
Gemeinsam mit professionellen und angehenden Profis von „Das letzte Kleinod“ waren die Kleingruppen vor den Zugauftritten sechs Tage lang in je einem der Museen Windstärke 10, Aeronauticum, Deichmuseum Land Wursten, Museum für Wattenfischerei Wremen und Historisches Museum Bremerhaven in intensiven Workshops zusammen gewesen und konnten viele verschiedene Eindrücke sammeln: haben das Watt unter den Füßen gespürt, sich den Wind um die Nase wehen lassen, Fluggeräte im Aeronauticum inspiziert, mit dem Oberdeichgräfe gesprochen und plattdeutsche Texte und Lieder gelernt. Eine Gruppe war auf Helgoland, eine andere hat eine Hafenrundfahrt in Bremerhaven gemacht. Im Nordholzer Bahnhofsgebäude haben sich alle zum Projektbeginn zum Mittagessen und Kennenlernen getroffen und sind täglich mit der EVB und zu Fuß zu ihren Treffpunkten gekommen. „Wir möchten uns ganz herzlich bei den Museumsvertretern und der EVB bedanken, die Zusammenarbeit war wunderbar“, betont Juliane Lenssen. Das Ziel des Ganzen, Kultur und Kunst neu zu denken und noch zugänglicher zu machen sowie Menschen zu verbinden, sei erreicht worden. In den Herbstferien plant „Das letzte Kleinod“ ein Folgeprojekt.
Gefördert wurde „NASSES Land“ durch das bundesweite Förderprogramm Aller.Land, das sich an strukturschwache ländliche Regionen richtet. In dieser Projektphase haben 94 Regionen 40.000 € erhalten, um bis zum Frühjahr 2025 ein Konzept für ihr Kulturvorhaben zu entwickeln. In der zweiten Phase wird eine Jury ab 2025 bis zu 30 der Regionen auswählen, die ihre Konzepte mit bis zu 1,5 Mio. € umsetzen dürfen. Ebenfalls unterstützt wurde „Nasses Land“ von „Kultur macht stark“.
Bildunterschriften:
- Kinder aus verschiedenen Nationen tauchten in die Geschichte der Region ein und stellten verschiedene Szenen vor Zuggästen dar.
- Frida Breuer aus Beverstedt und Gerd Blancke bei einer Ballett-Einlage.
- Die Tanz-Performance sorgte wie alle anderen Aufführungen für begeisterten Applaus der Fahrgäste.